Die demographische Entwicklung,
der wissenschaftliche Fortschritt, die weltumspannenden
Globalisierungsprozesse, die Wissensexplosion und der Bedarf an
Weiterbildung - alles deutet auf einen wachsenden Bedarf an
anthropologisch fundiertem Wissen über kulturelle, und rechtliche,
wirtschaftliche, diskursive, politische und gesundheitliche
Rahmenbedingungen und Dimensionen menschlichen Lebens hin. Zugleich
wird Bildung im Kontext der anhaltenden Globalisierungsprozesse und
ihrer Rückwirkungen immer mehr als Kompetenz erkannt, die befähigt,
aus der Uferlosigkeit gegebener Informationen das von uns
individuell benötigte spezifische Wissen auszuwählen und tragfähige
Einsichten zu schaffen, die uns zukunftsfähig machen. Zwei
Problemfelder erscheinen mir derzeit besonders relevant, so dass ich
mich in ihrer Erforschung und Vermittlung engagiert habe.
Fortschreibung der Kulinaristik
Die
Lebensmittelwirtschaft globalisiert sich derzeit immer mehr auch
da, wo man regionale Überschaubarkeit und Lebensmittelsicherheit
zu schätzen weiß. Einer der Gründe dieser Entwicklung ist die
Steigerung des Exports von Lebensmitteln durch die großen
Nationen, zu denen innerhalb der EU auch Deutschland gehört.
Weniger gesteigert wird zur Zeit dagegen das Wissen um die
Komplexität des Essens als eines sozialen Totalphänomens, das
die Menschen täglich von morgens bis abends begleitet und in
seiner Vielschichtigkeit erforscht
und vermittelt werden muss. Umso
wichtiger erschienen
- die
Gründung des
Jahrbuchs
für Kulinaristik Band 1 habe ich im
Auftrag des Herausgebergremiums herausgegeben, Band 2 wurde
von Irmela Hijiya-Kirschnereit (Berlin) ediert; Band 3 wurde von Jana Rückert-John (Fulda) und Maren Möhring (Leipzig)
vorbereitet. Band 4 und 5 sind inzwischen ebenfalls
erschienen und weitere Bände in Planung.
Siehe unter
Aktuelles.
-
die Edition des fächerübergreifenden Bandes Alois Wierlacher
(Hg.):
Kulinaristik des Frühstücks. Breakfast Across Cultures
(München 2018). Alle Beiträger haben auf Einladung des
Herausgebers mitgewirkt; ich selbst habe die Einführung
übernommen und an dem Beitrag über das Frühstück in
Deutschland mitgewirkt;
-
die Publikation eines
gleichfalls fächerübergreifenden Bandes, hg. von
Alois Wierlacher:
Das Kulturthema Essen bei Thomas Mann.
Dieser Band präsentiert disziplinäre und transdisziplinäre
Annäherungen an die literarische Kulinaristik Thomas Manns. Versammelt sind Beiträge aus der Sicht der Kulturthematik, der immanenten Kritik, der Medizingeschichte, der Ernährungswissenschaft,
der regionalen Kulturforschung, der literarischen Wirtschaftsanthropologie und
der Ritualforschung.
-
die Klärung des von der
Wissenschaft besonders vernachlässigten konzeptionellen
Fundaments des Gastgewerbes (Alois Wierlacher (Hg.):
Gastlichkeit.
Rahmenthema der Kulinaristik (Berlin
2011).
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Nach wie vor gibt es in Deutschland keine einzige universitäre
Disziplin, die sich das Nachdenken über die Gastlichkeit zur
besonderen Aufgabe gemacht hätte. Es gibt auch nur wenige
Publikationen, auf die ich hier unbedingt verweisen sollte: ich
nenne den Philosophen Hans-Dieter Bahr mit seinem Buch: Die Befremdlichkeit des Gastes
[1] sowie die Veröffentlichungen des Politologen Burkhard Liebsch
[2],
der Literaturgermanisten Friedrich/Parr
[3], und das Buch über die
Gastlichkeit als Rahmenthema der Kulinaristik. Sehe ich richtig,
hat auch die Theorie der interkulturellen Kommunikation der
Gastlichkeit keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, die Studienbücher
von Jürgen Heringer und Helmwart Hierdeis Studienbuch
eingeschlossen, obwohl die folgenden Überlegungen eine andere
Einstellung nahelegen:
Das Gasthaus als kulturelle
Zwischenwelt
Ein Gasthaus ist, phänomenologisch gesehen,
eine in Raum und Zeit begrenzte Kontaktwelt mit eigenem
Ordnungssystem. Es wird einerseits von den Vorstellungen des
Gastgebers und übergeordneten Rechtsregelungen, andererseits von den
mitgebrachten Einstellungen und Erwartungen der Gäste geprägt. Sieht
man vom Dauergast und institutionellen Sonderfällen wie einem
Bahnhofslokal ab, das in der Regel ein bloßer Warte- und Transitraum
ist, lässt sich die gastliche Kommunikationssituation als kulturelle
Überschneidungssituation und die Gaststätte als Interferenzraum von
Identität und Alterität, Innen und Außen, privat und öffentlich,
vertraut und unvertraut charakterisieren. Interaktionen in dieser
Kommunikationswelt aktualisieren sich demgemäß in der dreifachen
Bedeutung des Formativs inter (miteinander, zwischen und reziprok)
der betreffenden Aktanten. Eine solche Ordnung wird in der Theorie
der Intersubjektivität und Interkulturalität als ‚Zwischenwelt’,
‚dritte Ordnung’, ‚dritter Raum’, ‚Interkultur’ oder ‚Third Culture’
bezeichnet.
11.11.2023